Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Neuer Nationalismus im östlichen Europa. Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Organisatoren
Irene Götz / Klaus Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München; Herder-Forschungsrates; Schroubek-Founds Östliches Europa
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2016 - 03.12.2016
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Von
Sharon Rose Brehm, Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die diesjährige Tagung des Herder-Forschungsrates und des Schroubek-Founds Östliches Europa, organisiert von Irene Götz und Klaus Roth (LMU München), beschäftigte sich vom 1.- 3. Dezember 2016 mit einem wiedererstarkenden Nationalismus, der nach 1989 und noch einmal verstärkt in den letzten Jahren Diskurse, Politik und Populärkultur im östlichen Europa durchzieht. Durch die jeweiligen kulturwissenschaftlichen, insbesondere die ethnografischen Zugänge der Referierenden wurden unterschiedliche Kodierungen des Nationalen – Szenarien, Symboliken, Ursachen, sowie Identitäts- und Fremdbildkonstruktionen – anhand von Forschungsbeispielen aus verschiedenen Ländern des östlichen Europas aufgezeigt. Deutlich wurde dabei, dass Nationalismus als ein transnationales Phänomen zu untersuchen ist, doch die Analyse des lokalen, historisch zu kontextualisierenden Einzelfalls trotzdem unerlässlich bleibt. Während der facettenreichen Vorträge und engagierten Diskussionen wurde deutlich, wie der gefährlich zunehmende Bedeutungsgewinn der „Nation“ sowohl von politischen Eliten, als auch in alltäglichen Interaktionen vorangetrieben und durch diverse Institutionen umgesetzt wird.

In ihrer Einführung stellte IRENE GÖTZ (München) den Beitrag kulturwissenschaftlicher, insbesondere ethnografischer, alltagsnaher Forschung zur aktuellen Nationalismusdebatte in den Vordergrund. Gerade diese Perspektive eröffne die Diskussion über einen Nationalismus, der sich in den postsozialistischen Ländern, durch seine Omnipräsenz in politischen, medialen und alltäglichen Sphären auszeichnet. Doch auch die Frage, was wirklich neu am „neuen“ Nationalismus sei, zumal im „östlichen“ Europa, benannte sie als zentrales Thema.

In ihrem Eröffnungsvortrag charakterisierte MARKETA SPIRITOVA (München) die Wiederkehr des Nationalismus in Polen, Tschechien und Ungarn als ein Phänomen, das gleichermaßen auf Opfernarrative wie post-und anti-kommunistische Selbstbilder zurückgreift und die Zerrissenheit zwischen Europa und einer national orientierten Wir-Konstruktion widerspiegelt. Dass dies durchaus Eingang in Alltagspraktiken findet und Einfluss auf kollektive Identitätskonstruktionen hat, verdeutlichte sie an dem tschechischen Rockmusiker Daniel Lada. Seine Liedtexte, Musikvideos und Konzerte werden zu wirksamen und gleichermaßen simplifizierenden Performanzen des Nationalismus. Vor allem das Opfernarrativ Tschechiens, als kleinem homogenen Volk, das sich gegen Angriffe von außen schützen muss, wird zu einem kollektiv rezipierten und nationalistischen Zitat in seiner Musik.

Die erste Sektion handelte von „popularen Repräsentationen des Nationalen“. In ihrem Vortrag zu identitätsstiftenden nationalistischen Prozessen in Kroatien analysierte KLAUDIJA SABO (Wien) die Konstruktion von Kriegshelden in audiovisuellen Medien nach dem kriegerischen Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Die Verknüpfung von Opfererzählungen, insbesondere die Erinnerung an den sogenannten Heimatkrieg (1991-1994), mit Darstellungen der siegreichen Nation werden in der Figur des Soldaten oder dem V-Fingerzeichen gebündelt und dominieren das in Filmen audiovisuell transportierte Selbstverständnis Kroatiens.

ALEXANDRA SCHWELL (Hamburg/Wien) bediente sich Gerd Baumanns „Grammatik der Identität und Alterität“ für die Ethnografie von Othering-Prozessen während der Fußball-Europameisterschaft in Polen 2012. So wurden nicht nur imaginäre Fremdheit in den Stadien und Arenen produziert, sondern es kam ebenfalls zu einer Hierarchisierung der Inklusionen. Die Effekte eines Nationalgefühls – Exklusion, Stereotypisierungen, Stigmatisierung – formen sich, so verdeutlichte Schwell, insbesondere in Alltagspraktiken.

Anhand einer vergleichenden Analyse der in den letzten Jahren im öffentlichen städtischen Raum gebauten Denkmäler von Bulgarien und Mazedonien veranschaulichte KLAUS ROTH (München) wie Repräsentationen des Nationalen auch durch die politische Elite durchgesetzt werden. Mit dem Fokus auf Rekonstruktionen und Restaurierungen zeigte er gleichermaßen Ähnlichkeiten der architektonisch umgesetzten Identitätspolitik in Sofia und Skopje auf, die insbesondere die Epochen der Antike und des Mittelalters für ihren antithetisch auf die Nachbarstaaten bezogenen Heldenkult wiederentdecken. Der gegenwärtigen Misere von Armut und Abwanderung wird einmal mehr eine heroische Vergangenheit entgegengesetzt. Die Städte sollen auch als touristische Destinationen aufgewertet und attraktiv gemacht werden.

Das zweite Panel zu Identitätspolitiken wurde von PETRA STEIGER (Bratislava / München) eröffnet und widmete sich der Frage der Kommodifizierung eines kulturellen Repertoires des Nationalen durch gezielte Nation Branding Strategien des slowakischen Staates. Am Beispiel des Imagefilms „Good Idea Slovakia“ analysierte sie einerseits wie identitätsstiftende Bausteine des Nationalen audiovisuell zusammengefügt werden und andererseits der Nationalstaat zum Objekt, zu einer ökonomisch bewertbaren Marke, wird.

In einer quantitativen wie qualitativen Diskursanalyse russischer, aus dem Westen importierter Hochglanzmagazine und der Kinderserie „Mascha und der Bär“ widmete sich JULIA PERSON (Frankfurt am Main / Erfurt) der Frage des Importes eines Genres der Popularkultur. Denn die analysierten Magazine, Cosmopolitan und Maxim, sind nicht nur russischsprachige und damit lokale Versionen globaler Akteure. Darüber hinaus sprach sie den Magazinen eine Ratgeberfunktion zu, so dass es inhaltlich zu einem Spiel kollektiver Identitätsangebote komme. Umgekehrt würde über die besagte Kinderserie Ideen einer russischen Kulturnation transnational verbreitet.

SARA REITH (Mainz) widmete ihren Vortrag den Repräsentationen nationaler Heimkehrerprogramme nach Russland und den durch Remigration gemachten subjektiven Erfahrungen sogenannter „Mit-Vaterländer“. Dabei seien diese Maßnahmen im Kontext russischer Abgrenzungs-und Bevölkerungspolitik zu bewerten. Nicht nur zeigte Reith strukturelle Besonderheiten, wie finanzielle Anreize und eine Steuerung der Personengruppe durch ein Migrationsmanagement auf, sondern spiegelte außerdem wider, wie die Rückkehrenden innerhalb dieses Migrationsprozess das Vertrauen auf Staatlichkeit umsetzen und interpretieren.

Die dritte Sektion über Erinnerungsorte und Mythen läutete ANA LULEVA (Sofia) mit einem historischen Abriss über performative, postsozialistische Erinnerungskultur in Bulgarien ein. Diese entsteht aus einem breiten Spektrum informeller und institutioneller Techniken, die gleichermaßen die Konstruktion eines Nationalstaats wie die Produktion eines nationalen Gedächtnisses erzeugen. Gerade wiederkehrende Trends wie Ethno-Hochzeiten und die Renaissance von Volkstrachten verdeutlichen, wie Erzählungen über eine ruhmreiche Vergangenheit (insbesondere die Befreiung vom osmanischen Reich) und Gerechtigkeitsnarrative seit 1989 zu Allgemeinplätzen öffentlichen Erinnerns werden.

MALGORZATA ŚWIDER (Opole) demonstrierte anhand sich wandelnder Soldatennarrative die Folgen des Wahlsiegs der nationalkonservativen polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Die Heroisierung der „Verstoßenen Soldaten“, der Partisanen, als Widerstandskämpfer gegen den kommunistischen Terror diene vor allem der Neuinterpretation nationaler Mythen und bilde damit einer symbolischen Abbreviatur gegenüber linksgerichteten und liberalen politischen Strömungen.

Der Verknüpfung von Sprache und Nationalgefühl ging LÁSZLÓ MATTHIAS SIMON-NANKO (Tübingen) in seinem Vortrag über eine politische Mythologie Ungarns nach. Anhand aktueller Beispiele aus Politik und Gesellschaft skizzierte er das wiedererstarkende Interesse an der Erforschung ungarischer Frühgeschichte, welche die Wissenschaft in den Dienst einer am Turanismus geprägten Staatsideologie stelle. So wird der Ethnonationalismus – auf dem Bild des nomadischen Reiterkriegers basierend - zu einer Alltags- und Ersatzreligion, welche historische Kontinuität suggeriere und der Exklusion anderer Theorieansätze und Bevölkerungsgruppen diene.

Am Beispiel Rumäniens diskutierte ANTON STERBLING (Görlitz) , ausgehend von der Zeit des kommunistischen Ideologiemonopols, wie nationale Symbole öffentlich tabuisiert, aber in privaten Räumen, teils verschlüsselt, weitergegeben wurden und welche mutmaßlichen Folgen dies für die Gegenwart weiterhin habe.

Am Abend wurden feierlich die Schroubek-Promotions- und Magisterpreise 2016 verliehen. Für ihre überzeugend konzipierte Magisterarbeit zur Hybridität polnischer Identitäten in Joanna Bators literarischem Werk „Chmurdalia“ erhielt die Literaturwissenschaftlerin IRIS TABEA BAUER den Georg R. Schroubek Nachwuchspreis. In diesem Jahr wurden zwei Dissertationen mit dem Georg R. Schroubek Dissertationspreis ausgezeichnet. KLAUDIJA SABO erhielt diesen für ihre Arbeit über Heldennarrative in Kroatien. UTA BRETSCHNEIDER wurde für ihre Arbeit über Vertriebene als Neubauern in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) geehrt.

Die vierte und letzte Sektion beschäftigte sich mit der, dem Nationalismus inhärenten Konstruktion von „inneren und äußeren Feinden“. NOEMI SEBÖK-POLYFKA (München) widmete ihren Vortrag dem Anti-Ziganismus in Ungarn. Im Fokus standen die Lebensstrategien, mit welchen beruflich erfolgreiche Rom_nja auf politische Exklusionsmechanismen reagieren. Dabei wurde deutlich, dass Fremdstigmatisierung nicht nur Teil politischer Kampagnen ist, sondern zum Teil auch wieder zur Stigmatisierung der sozial aufgestiegenen Rom_nja gegenüber den auch aus ihrer Sicht „nicht Integrierten“ verwendet wird. Selbstethnisierungen und Unterschichtungen sind ebenfalls Reaktionen auf diese Fremdzuschreibungen.

MARGIT FEISCHMIDT (Budapest) stellte in ihrem Vortrag dar, wie sich Rechtsradikalismus in zwei Dörfern Ungarns als Alltagsphänomen etabliert hat. Während die Unterschiede vor allem im Feindbild lagen – im ersten Beispiel ging es um innere Feinde, namentlich Rom_nja, im zweiten Dorf an der Grenze zu Serbien wurden die Flüchtlinge der letzten Sommer als äußere Feinde stigmatisiert – ähnelten sich die Konstruktionsprozesse. In beiden Fällen wurde auf dehumanisierende Metaphern zurückgegriffen und die sozialen Medien wurden zur Emotionalisierung der Bevölkerung als Propagandamittel, etwa durch Werbevideos zur Heroisierung der lokalen Bürgerwehr, eingebunden.

In seinem empirisch fundierten Vortrag analysierte SIMON SCHLEGEL (Halle) das multiethnische friedliche Zusammenleben in der ukrainischen Peripherie und die Genese identitätsstiftender Narrative. Die Verarbeitung von Folkloreelementen und ein politisches Traditionsbewusstsein basieren einerseits auf der kommunistischen Vergangenheit, zum anderen dienen sie dem Erhalt einer labilen Harmonie, die auf ethischer Unterscheidbarkeit basiert.

In ihrem materialreichen Schlussvortrag zeigte AGNIESZKA BALCERZAK (München) mit welchen diskursiven und performativen Praktiken die national-konservative Protestbewegung in Polen den öffentlichen Raum durchzieht. Denn Märsche, Kundgebungen, soziale Kampagnen, Happenings, Graffiti und Kleidung tragen immer mehr die Handschrift nationalistischer Symbolik. Dass diese Tendenzen zunehmend normalisiert werden, liegt mitunter an der Politik, die leichtfertig und ohne rechtliche Eingrenzungen mit aufgeladenen Symbolen umgeht.

In der abschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern und wie wir als Wissenschaftler_innen auf diese besorgniserregenden Entwicklungen, die nicht auf das östliche Europa begrenzt sind, reagieren können. Reicht hier die Analyse und Dekonstruktion neuer und alter Nationalismen in Politik, Medien und Alltag? Oder sollte darüber hinaus stärker in aufklärerischer Weise gegen diese Entwicklung medienwirksam angeschrieben werden? Die Vorträge und Diskussionen auf dieser Tagung machten fallstudienartig und damit mit der jeweils nötigen empirischen Tiefe das breite Spektrum nationalistischer Erinnerungskultur, nationaler Identitätspolitiken und einschlägiger popularer Repräsentation in den Alltagen deutlich. Dass große Teile der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung in den letzten Dekaden von einer verengten Interpretation des postnationalen Narratives geleitet wurden und damit dem postulierten Bedeutungsverlust der Nation und des Nationalen aufsaßen, führte lange Zeit zu einer Stagnation der Nationalismusforschung, so ein Tenor der Tagung, die sich dieses Desiderates nun annahm.

Konferenzübersicht:

Irene Götz (München): Einführung
Marketa Spiritova (München): „Performing the Nation“: Inszenierung des Nationalen in der Populärkultur

1. Sektion: Populare Repräsentationen des Nationalen

Klaudija Sabo (Wien): Rambo, Rock und Victory! Der visuelle Kult der nationalen (Kriegs-) Helden in Kroatien nach Tito
Alexandra Schwell (Hamburg/Wien): Mehr als nur ein Spiel. Fußball und die Inszenierung nationaler Loyalitäten und Rivalitäten im östlichen Europa
Klaus Roth (München): “Die Nation bauen” – Die Konstruktion der Nation aus Antike und Mittelalter. Mazedonien und Bulgarien als Beispiele

2. Sektion Identitätspolitiken

Petra Steiger (Bratislava): „Good Idea Slovakia“: Nation als „Imagined Commodity“
Julia Person (Frankfurt am Main / Erfurt): Mediale Konstruktionen des Nationalen (des Russischen) in erfolgreichen westlichen Hochglanzmagazinen
Sara Reith (Mainz): Repräsentation von Staatlichkeit und Nation im remigrantischen Diskurs in Russland - Einblicke in eine Feldforschung

3. Sektion: Erinnerungsorte und Mythen

Ana Luleva (Sofia): Das Nationale vs. Europäische in der bulgarischen postsozialistischen Erinnerungskultur
Małgorzata Świder (Opole/Oppeln): „Verstoßene Soldaten” – die neuen Helden Polens
László Matthias Simon-Nanko (Tübingen): Politische Mythologie in Ungarn? – Zu Kontinuitäten paralleler Geschichtsschreibung im Kontext von Archäologie und Sprachwissenschaft
Anton Sterbling (Görlitz): Fortbestand und Erneuerung nationaler Mythen. Das Beispiel Rumäniens

4. Sektion Wir und die Anderen: innere und äußere Feinde

Noémi Sebök-Polyfka (München): Mit Antiziganismus zum nationalen Selbstbild? Konstruktionen „des Anderen“ und deren Einfluss auf Selbstbilder von Rom_nja in der Slowakei
Margit Feischmidt (Budapest): Neue Formen des Nationalismus und die rassistische Darstellung der migranten und minderheitlichen Andern. Ethnographische Fallanalysen zweier ungarischer Dörfer
Simon Schlegel (Halle): Ethnische Minderheiten an der ukrainischen Peripherie - Diversität ohne kulturelle Unterschiede?
Agnieszka Balcerzak, (München): „Gott, Ehre, Vaterland“ – Das Wiederaufleben des Nationalismus in Polen am Beispiel national-konservativer Protestbewegungen


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